Noch eine Leseprobe aus der Zeitenwelt: Lesen Sie in Ruhe - Zeit spielt hier keine Rolle.

Vorzeit

 

Dies ist die Geschichte zweier Welten, die aufeinandertrafen. Sie taten es ohne Vorankündigung und vollkommen unvorbereitet.

Das wäre nicht weiter schlimm, meinten diejenigen, denen schon lange eine neue Herausforderung fehlte und denen ihr bisheriges Dasein per se zu langweilig war. Andere aber, nämlich die, welche verzweifelt nach einem sicheren Halt in der Welt suchten, waren schockiert und flüchteten sich in Verschwörungstheorien, die ihnen versprachen, dass dies alles nicht wirklich war. Man gab ihnen die Hoffnung, sie bräuchten nur dies oder jenes zu tun, diesen oder jenen zu ihrem Oberhaupt zu wählen, und der Spuk hätte ein abruptes Ende. So glaubten einige, die Lösung läge darin, acht Tage lang achtmal Richtung Westen zu sehen. Sie bräuchten nur fest genug daran zu glauben, dass es ein Albtraum sei, den man ihnen in die Gehirne gepflanzt hätte, um anschließend durch eine globale Messung der Gehirnströme hinter die geheimsten Geheimnisse der Menschheit zu kommen.

Und dann gab es die große Mehrheit derer, denen alles ziemlich egal war, solange sie nur nichts damit zu tun hätten.

Wie ihr sicherlich schon vermutet, waren dies die Reaktionen auf der einen Welt, der Erde. In der anderen Welt hingegen sah es ein wenig anders aus.

Aber wie kam es überhaupt dazu? Was war Ursache für dieses plötzliche und unerklärliche Aufeinandertreffen? War es eine Vorsehung, und wenn ja, von wem stammte sie? Oder war es ein großer Plan, der vor langer Zeit geschmiedet und dann für noch längere Zeit in der Schublade der Vergessenheit geraten war? Bis der Tag kam, an dem einmal gründlich aufgeräumt wurde: ein Umzug oder ein Frühjahrsputz, der alles ins Rollen gebracht hatte? Die Wahrheit, meine Lieben, ist auch mir bis heute unklar geblieben. Aber entschuldigt bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Betty, Betty van Birnhelm. Ich bin die Autorin und werde euch von meinen Recherchen auf der Zeitenwelt berichten: von den vielen Gerüchten und von der Wahrheit, oder vielmehr von dem, was man für die Wahrheit hält.

 

Die Gute Menschin

 

Die Gute Menschin von Anderswo – so will ich sie direkt nennen – arbeitete im Großen Büro in ihrer Heimatstadt. Sie trug zu dieser Zeit noch einen anderen Namen: Irene Irgendwer oder so ähnlich. Ihre Ausbildung hatte sie mit einem »Gut, aber was kann sie schon damit anfangen?« bestanden. Und genau dies hatte sie zu ihrem Leitspruch erhoben: »Was kann ich schon anfangen?« Mit diesem Satz harrte sie an Ort und Stelle aus. Okay, sie meisterte die eine oder andere Sonderausbildung und engagierte sich sehr beim Thema »Kommunikation im Alltag: Keiner versteht mich!«. Unabhängig davon konnte sie sich nicht vorstellen, irgendwann einmal etwas anderes zu machen, als ihrer Arbeit im Großraumbüro des Großen Büros nachzugehen. Die Erzählungen über die angebliche Ankunft von Wesen aus einer anderen Welt schien sie erfolgreich ignoriert zu haben. Doch das sollte sich ändern.

 

Die Schließung der Portale

 

Inmitten dieser misstrauischen Zeit wurde die Gute Menschin zu Beginn einer Wachzeit von einem lauten Tumult geweckt.

»Extrablatt! Die Portale werden geschlossen! Extrablatt! Die Portale werden geschlossen!«

Nach anfänglichem Blinzeln riss sie die Augen auf. Sie war wach, so wach wie noch nie. Zumindest hat sie das hinterher erzählt. Hinterher, nachdem sie den Schock überwunden hatte. Aber das war viel später. In diesem Moment sprang sie mit weit aufgerissen Augen aus dem Bett, stolperte, blieb mit ihrem Schlafzeitgewand am Bettpfosten hängen und stürmte mit aufgerissenen Augen und aufgerissenem Gewand aus ihrem Zimmer.

Die Portale wurden geschlossen. Die einen sagten, es musste ja so kommen, und die anderen schüttelten den Kopf, sagten aber nichts. Und die Weltenübertreter, die von der rasanten Entwicklung überrumpelt wurden, die sammelten ihre sieben Sachen ein und suchten auf dem schnellsten Wege das nächste Portal auf. Die meisten schafften es tatsächlich noch, aber für einige war es zu spät. Entweder waren sie zu langsam, oder aber die Zeit reichte nicht aus. So schnell sie auch waren, sie standen vor verschlossenen Portalen und kamen nicht mehr durch.

Unsere Gute Menschin gehörte zu ihnen. Mit aufgerissenen Augen und aufgerissenem Schlafzeitgewand stand sie am Ufer des Sees der Sinne. Sie war zu spät, die Boote waren weg. Ob sie es geschafft hätte, wenn sie schneller gewesen wäre, wenn sie nicht mit ihrem aufgerissenen Gewand durch die Straßen gestolpert wäre, das weiß vielleicht der Geier. Aber wir wissen es nicht.

Wir wissen auch nicht, wie viele es nicht zurück in ihre Welt schafften, denn es gab eine Zahl von illegalen Grenzgängern, deren Anzahl niemandem bekannt war. Dies lag daran, dass Skeptiker die Existenz der Illegalen anzweifelten. Sie gewannen die Oberhand in dieser Diskussion und unterbanden jede diesbezügliche Dokumentation.

Neben denen, die es aus zeitlichen Gründen nicht mehr schafften, kamen noch die Verirrten, die aufgrund eines Unfalles o. ä. durch das Portal gegangen, geflogen oder sonst wie rübergekommen waren. Diese waren so sehr mit der Bewältigung ihres jeweiligen Schicksals beschäftigt, dass sie die Portalschließungen und das ganze Ausmaß dieser Veränderung nicht mitbekamen.

Hinter vorgehaltener Hand wird heute noch gemunkelt, dass es sich hierbei um eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Menschen bzw. Zeitenweltlern handelte. Mir, der Autorin, ist jedoch nur ein Fall bekannt geworden: ein kunstvoll verziertes Kettenkarussell, das im Lande der Schwerhaber gestartet war und seine Passagiere von Alt- nach Neutrübsalien bringen sollte. Aufgrund des Trubels, der üblicherweise auf den Karussells herrschte, hatte der Kapitän den Überblick verloren und den Autopiloten eingeschaltet. Doch dieser war noch recht jung und wahrscheinlich fehlte es ihm an Flugreife. Es war schon spät und ziemlich dunkel, als das Karussell sehr nahe an ein Portal kam. Zu nahe. Binnen Sekunden wurde es angesogen, durch das Portal geschleudert und ward in der Zeitenwelt nicht mehr gesehen. Die Passagiere waren allesamt Zeitenweltler. Nach meinen Informationen erlitten sie eine Bruchlandung und brauchten einige Zeit, um sich wieder aufzurappeln und das Karussell wieder startklar zu machen. Da war es allerdings zu spät.

 

Der Weg nach Skeptalusien

 

Die Schlafzeit war zunächst noch vom Zauber der Musikperformance verhüllt. Doch das änderte sich zu ihrem Ende hin schlagartig: Es begann zu regnen. Heftig. Ziemlich heftig. Der Regen fiel kübelweise vom Himmel.

Franz konnte nicht schlafen und wagte sich vor das Haus auf die Straße, um dort den Zauber der Schlafzeit zu genießen, ohne von einem »Schande! Schande!« überfallen zu werden. Stattdessen überfiel ihn dort der Regen, und er kam ziemlich bedröppelt – besser: begossen – zum Frühstück zurück ins Haus.

Triefend traf er auf einige Randweltler. Sie hatten sich frischen Kaffee besorgt und übten für den Wettbewerb in Trallalanzia. Jeder an seinem eigenen Lied. Gleichzeitig. Allerdings schien ihnen dieses Durcheinander von Melodien, Tönen und Texten nichts auszumachen.

Für Franz war das jedoch zu viel nach dieser unausgeschlafenen und feuchten Schlafzeit. Er dachte an Sussi. Er musste überlegen. Das Bild dieses säuselnden Exemplars von einer Zeitenweltlerin hatte sich in seine Netzhaut eingebrannt.

Er war mit seinem Kaffee wieder vor das Haus getreten und traf dort auf – Sussi.

Sussi, die gleichzeitig in die Ferne und in sich hinein sah. Als sie Franz bemerkte, tauchte sie wieder in der Gegenwart auf.

»Hallo, Franz.«

»Hallo, Sussi. Wie geht es dir?«

»Es geht mir gut. Und ich freue mich auf Trallalanzia.«

»Hm.« Franz nahm einen Schluck Kaffee.

»Ich freue mich das erste Mal, seit ich diese Reise angetreten habe.«

»Hm?«

Susanne legte den Kopf etwas schräg und lächelte.

»Und wie geht es dir, lieber Franz?«

»Hm.« Franz zuckte mit den Schultern.

Genau genommen wusste er es nicht.

 

Der Wettbewerb

 

Die Tür des Kusses öffnete sich und die Gute Menschin sah in ein ihr bekanntes Gesicht. Kurt lächelte sie an, und sie küsste ihn wie selbstverständlich leicht auf die rechte Wange.

»Seid gegrüßt, fremde Freundin. Nehmt Platz. Ich fahre jetzt. Es geht los!«

Die gute Laune des Fahrers setzte sich in den Kussreihen fort. Wohin die Gute Menschin auch sah, wiegten sich die Fahrgäste nach einer Musik, die zwar nicht zu hören war, dafür aber unübersehbar in der Luft lag. Sie schritt durch die Reihen und lächelte den mitfahrenden Zeitenweltlern zaghaft zu. Am Kussende setzte sie sich, holte tief Luft und tauchte in die um sich greifende Vorfreude ein.

Die Fahrt verging wie im Fluge. Und das, obwohl dieser Frühkuss kein Flugkuss, sondern ein Bodenkuss war. Vielleicht lag es daran, dass die Kusse grundsätzlich sowohl als Flug- als auch als Bodenkusse konzipiert waren und Kurt immer mal wieder den Flugmodus einschaltete. Das war sonst nicht seine Art, denn er hielt sich grundsätzlich an die Vorschriften der Oberkussdirektion. Aber jetzt? Vielleicht lag es an der Magie des Wettbewerbes oder an »Wasauchimmer«, ein in der Zeitenwelt häufig benutzter Ausdruck, dessen Hintergrund ich allerdings noch nicht recherchieren konnte.

 

Auf dem Weg zur Hall-of-Trallala winkte eine mit Blumen geschmückte Zeitenweltlertraube unserer Reisegruppe zu.

»Hallohallo.«

»Hallo.« Die Gute Menschin erkannte als Erste einen der Randweltler aus Buddys Haus.

»Wir sind unterwegs zum Wettbewerb. Wie gefallen euch unsere Auftrittsroben?«

»Hm«, meldete sich Susanne zu Wort, »sehr blumig.«

»Ja, herrlich blumig.« Die Gute Menschin strahlte den Fragesteller an.

»Wir haben es eilig. Der Wettbewerb beginnt mit unserer Kategorie.«

»Ja«, bestätigte ein Randweltler, »lasst uns weitergehen.«

»Wir wollen auch los. Ich möchte mir gerne den ganzen Wettbewerb ansehen.« Die Gute Menschin übernahm die Führung. Sie hakte sich bei Susanne ein, und sie schritten mit der Zeitenweltlertraube der Hall-of-Trallala entgegen.

Vor der Halle standen verschieden große Gruppen vor einem bunten Plakat mit der Auflistung der Wettbewerbskategorien:

 

Einfaches Singen
Schnulzetten
Säusolitos
Dramorgallalas
Wiegen- und Wagenlieder
Humtätäs
Halbzeit- und Schlafzeitchansons
Schlager
Neuheiten

 

 

Schlager? Ich glaube, diese Kategorie gab es noch nicht sehr lange. Sie wurde erst nach Öffnung der Portale in den Kategorienkatalog aufgenommen. Und es gibt heute noch Stimmen, die behaupten, dass dies ein nicht unwesentlicher Grund für die Schließung der Portale gewesen wäre. Mir scheint dies aber nicht sehr glaubwürdig. Dieser Gedanke wird eher seinen Ursprung in der Gerüchteküche von Paul Duluegs haben.